21. Januar 2004,  02:12, Neue Zürcher Zeitung

Der Erfinder der fünften Dimension

Zum 50. Todestag von Theodor Kaluza

Theodor Kaluza ist in die Annalen der Physik eingegangen, weil er zum ersten Mal die Idee aufgebracht hat, die Raum-Zeit könne mehr als vier Dimensionen besitzen. Erst in jüngster Zeit beginnt man, die Tragweite dieser Vorstellung zu erkennen.

Von Daniela Wünsch*

«Ich habe grossen Respekt vor der Schönheit und Kühnheit Ihres Gedankens», schrieb Albert Einstein 1919 begeistert dem Königsberger Privatdozenten Theodor Kaluza. Er hatte Einstein ein Manuskript gesandt, in dem er die Idee entwickelte und mathematisch begründete, dass unser physikalischer Raum fünfdimensional sei. Die Erweiterung des Einstein'schen vierdimensionalen Raums (drei Raum- und eine Zeitdimension) durch eine zusätzliche räumliche Dimension ermöglichte es, die zwei unterschiedlichen Naturkräfte - die Gravitation und den Elektromagnetismus - einheitlich zu beschreiben.

Kaluzas Theorie erschien 1921 in den Sitzungsberichten der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, geriet aber schon Ende der 1920er Jahre in Vergessenheit. Die Physiker, die sich für sie interessiert hatten - darunter Wolfgang Pauli, Louis de Broglie und Oskar Klein, der 1926 Kaluzas Theorie mit der Quantenmechanik verbunden hatte -, hielten sie für ein rein mathematisches Konstrukt. Dass unser physikalischer Raum eine zusätzliche Dimension haben könnte, erschien den Physikern damals realitätsfremd.

Theodor Kaluza kam 1885 in einer deutschen, katholischen Familie in Wilhelmsthal-Oppeln (Oberschlesien) zur Welt. In Königsberg, wo sein Vater Professor für Anglistik war, erhielt er eine neuhumanistische Ausbildung und studierte bis 1907 Mathematik, Physik und Astronomie. Anschliessend hörte er ein Jahr in Göttingen Vorlesungen bei den berühmten Mathematikern David Hilbert und Hermann Minkowski. Mit seiner Theorie des fünfdimensionalen Raums und drei weiteren Theorien stand Kaluza bis 1925 an der vordersten Front der theoretischen Physik. Doch um seine vierköpfige Familie abzusichern, wechselte er zur Mathematik. Mit Einsteins Unterstützung erhielt er 1929 ein Ordinariat für Mathematik in Kiel. 1935 wurde er als Nachfolger von Richard Courant nach Göttingen berufen. Da Kaluza kein NSDAP-Mitglied war und die Naziideologie konsequent ablehnte, war die Unterstützung von Helmut Hasse, dem damaligen Direktor des Mathematischen Institutes, bei seiner Berufung entscheidend. - Kaluza war ein Mann sokratischer Bescheidenheit. Seine Theorien machte er auch in Göttingen kaum jemandem bekannt. Genauso wenig stellte er die Breite seiner Kenntnisse in Mathematik, Physik, Astronomie, Chemie, Biologie, Rechtswissenschaft, Philosophie und Literatur ins Licht. Er sprach 17 Sprachen und schrieb sogar Briefe in Arabisch, seiner Lieblingssprache.

Als Theodor Kaluza am 19. Januar 1954 starb, erinnerte sich kaum noch jemand an seine originelle Theorie. Erst Mitte der siebziger Jahre erwachte das Interesse an zusätzlichen Dimensionen erneut. In kernphysikalischen Prozessen hatte man zwei neue Naturkräfte entdeckt: die schwache und die starke Wechselwirkung. Alle vier Naturkräfte zu vereinheitlichen, war nun die grosse Herausforderung für Physiker. Kaluzas Vereinheitlichungsmodell und Oskar Kleins Idee von 1926, dass die fünfte Dimension zu einem winzigen Kreis zusammengerollt sei, wurden zur Grundlage der sogenannten Superstringtheorie. Sie versprach das erste Mal, die Quantenmechanik mit der allgemeinen Relativitätstheorie zu versöhnen. Winzige Saiten (strings), die durch ihre Schwingungen alle Elementarteilchen erzeugen, bilden die fundamentalen Bauteile der physikalischen Welt. Damit diese Theorie eine konsistente Beschreibung der Natur liefert, muss der Raum allerdings nicht nur eine, sondern sechs zusätzliche, aufgerollte Dimensionen haben. Es verwundert nicht, dass es gerade Elementarteilchenphysiker sind, die heute zu den grössten Bewunderern der Kaluza-Klein-Theorie gehören.

Kaluza selbst glaubte an seine Theorie bis an sein Lebensende. 1952 arbeitete er an ihrer Verbindung mit den auf Hermann Weyls Ideen beruhenden Eichtheorien. Der ausgedehnte Unterricht, den er aus finanziellen Gründen auch im Pensionsalter noch geben musste, schwächte ihn aber so sehr, dass er dieses Programm nicht mehr zu Ende führen konnte. 50 Jahre nach Kaluzas Tod suchen die Experimentalphysiker verstärkt nach der fünften Dimension. Sollten sie Erfolg haben, würde Kaluza zu einem Fixstern der Physik des 20. Jahrhunderts werden. Einstein traf den Punkt: «Ob sich Kaluzas Idee bewähren wird, kann man noch nicht sagen, Genialität wird man ihr zuerkennen müssen.»

* Die Autorin lehrt am Institut für Wissenschaftsgeschichte in Göttingen. Ihre Dissertation «Theodor Kaluza (1885-1954). Leben und Werk» erscheint im Termessos Verlag als Buch.

 
 
 

Diesen Artikel finden Sie auf NZZ Online unter: http://www.nzz.ch/2004/01/21/ft/page-article9C8ZJ.html

 
 

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